Interview
Tatort: Taunus.

Bestsellerautorin Nele Neuhaus spricht mit ihrer Lektorin Marion Vazquez über ihren neuesten Krimi um das Ermittlerteam Oliver von Bodenstein und Pia Sander und erzählt, warum der Vordertaunus in ihren Romanen eine wichtige Rolle spielt.
Bezaubernde Landschaft, malerische Täler, trügerische Idylle.
Marion Vazquez: Beim Stichwort »Verbrechen« denkt man oft an Großstädte, in deren Unübersichtlichkeit und Anonymität das Böse dem Anschein nach besonders gut gedeiht, deine Krimis spielen aber eher in Kleinstädten, im ländlichen Raum, wenn man so will. Was ist für dich das Gefährliche am Dorfleben?
Nele Neuhaus: Es ist nicht das Gefährliche, was mich am Dorfleben fasziniert, sondern die Enge und die Nähe der Menschen, die nicht selten miteinander verwandt und verschwägert sind. Man kennt sich und die sprichwörtlichen Leichen im Keller der Nachbarn, oft seit Generationen. Es gibt alte Geheimnisse, Gerüchte und Familien fehden, aber auch Zusammenhalt und Loyalität. Für mich ist es spannend, einen Blick hinter die scheinbar idyllische Fassade zu werfen und das Geflecht von falsch verstandener Solidarität, aus der eben auch Verfehlungen und Verbrechen verschwiegen und gedeckt werden. Anders als in anonymen Großstädten sind sich die Menschen näher, aber oft reicht ein Ereignis, um einen Dominoeffekt auszulösen, der die ganze Dorfgemeinschaft ins Wanken bringt. Ein Verbrechen, das in einem kleinen Ort geschieht, ist existentieller und bedrohlicher, gerade weil sich die Menschen so nah sind — räumlich wie menschlich.
MV: Der neue Fall betrifft Bodenstein ganz persönlich. Was macht ihn hier so verletzlich? Warum geht ihm der Fall so nah?
NN: Drei Monate, bevor Oliver von Bodenstein ein Sabbatical nimmt und für ein Jahr dem K11 den Rücken kehrt, geschehen drei Morde. Bodenstein kannte die Opfer schon seit vielen Jahren, außerdem lebt er in Ruppertshain, dem kleinen Taunusörtchen, in dem auch die Opfer zu Hause waren. Im Laufe der Ermittlungen erkennen Bodenstein und seine Kollegin Pia Sander, dass es zwischen den drei Morden und einem dramatischen Ereignis aus Bodensteins Kindheit offenbar eine Verbindung gibt. Der Schrecken und die Schuldgefühle holen den Kommissar nach 42 Jahren ein, und plötzlich ist er selbst in Gefahr, denn der Mörder tut alles, um unerkannt zu bleiben.
MV: Gibt es einen konkreten Anlass, der dich zu diesem Fall inspiriert hat?
NN: Wie so oft hat mich der Alltag inspiriert! Bei einem Spaziergang durch den herbstlichen Taunuswald stieß ich auf ein altes Familiengrab und auf einen Campingplatz auf einer Waldwiese. Gut gehütete Familiengeheimnisse und die Frage, wie Menschen mit Verlust und Ungewissheit umgehen, faszinieren mich schon immer. Die Grundidee dieses 8. Falles von Bodenstein und Pia kam mir schon vor längerer Zeit in den Sinn, nicht zuletzt deshalb musste Bodenstein auch nach Ruppertshain ziehen. Dieser kleine Ort im Vordertaunus ist mir selbst gut bekannt — beste Voraussetzungen also für eine spannende Geschichte.
MV: Welche Gegend außer dem Taunus würde dich auch reizen, um dort das Böse hereinbrechen zu lassen?
NN: Im Prinzip jede! Mir geht es in meinen Krimis in erster Linie nicht um den Ort oder die Landschaft, sondern um die Menschen, die ich beschreibe. Der Vordertaunus ist seit mehr als dreißig Jahren meine Heimat, ich kenne mich gut aus und muss nicht viel recherchieren, um Schauplätze zu finden, die es tatsächlich gibt. Aber ich kann mir auch jede andere Gegend der Welt als Schauplatz für meine fiktiven Verbrechen vorstellen. Als Nele Löwenberg lasse ich meine Geschichten in den USA spielen, in meinem Erstling Unter Haien habe ich mir die Stadt New York als Schauplatz für meinen Roman ausgesucht. Ich denke, es kommt nicht darauf an, dass man lange in einer Gegend lebt, um sie in einem Roman real wirken zu lassen, sondern vor allen Dingen auf die Empathie, mit der man seine Figuren entwickelt. Wo dann das Böse zuschlägt, spielt letztendlich nur eine untergeordnete Rolle.
MV: Man spürt in deinen Büchern ein starkes Verlangen nach Gerechtigkeit, welche Ungerechtigkeit bringt dein Blut zum Kochen?
NN: Es stimmt, ich habe ein starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und bin oft schockiert, deprimiert oder fassungslos, wenn ich Ungerechtigkeiten sehe oder sogar selbst erlebe. Das fängt im alltäglichen Miteinander an: Lügen und Ausreden mit dem Ziel, andere auszutricksen, zu übervorteilen und so Vorteile für sich selbst zu erlangen, sind mir ein Gräuel. In meinen Büchern versuche ich, am Ende das Gute siegen zu lassen, auch wenn das im wahren Leben nicht immer so läuft. Ich finde es schlimm, wie besonders in der Arbeitswelt Menschen aus Profitgier, Geltungsdrang und Egoismus schikaniert und gemobbt werden. Und es ist verachtenswert, wenn Stärkere ihre Überlegenheit und Macht ausnutzen, um Schwächere zu unterdrücken. Eine absolute Gerechtigkeit wird es wohl niemals geben, dazu sind die Menschen zu unterschiedlich, aber wenn man im Kleinen darauf achtet, niemanden absichtlich zu verletzen, wenn man Werte wie Rücksichtnahme und Toleranz lebt und hier und da bereit ist, Verantwortung für andere zu übernehmen, dann würde es viel mehr Gerechtigkeit auf der Welt geben.